Die Firmen setzten auf (fast) jeden mit Gitarre und Haaren

Drei Fragen an Matthias Penzel zu »Talk on the Wild Side. Treffen mit Metal- und Rockmusiker:innen«

Der opulent ausgestattete 400-Seiten-Reader »Talk on the Wild Side« versammelt Gespräche mit Musiker:innen, die in den frühen 90er-Jahren auf dem Karrieresprung waren, allen voran natürlich Nirvana, Pearl Jam und die Red Hot Chili Peppers. Aber auch B.B. King, AC/DC oder Black Sabbath haben noch etwas zu sagen und gehen mit Matthias Penzel ins Gespräch. Dieser wagt sich aber auch in die Produktionsstätte der Hitschmiede von Stock Aitken Watermann oder unterhält sich mit der italienischen Popsängerin Alice.
Die damals fürs Tagesgeschäft verschiedener Musikmagazine entstandenen Artikel ergeben so – neu arrangiert und editiert – eine Oral History einer Branche im Höhenflug.

Kannst du auf den Punkt bringen, was in den 90ern – abgesehen von neuen Stilen oder Stilmixen – die großen Veränderungen im Rockbusiness waren? Also solche, die vielleicht bis heute nachwirken?

Was eher indirekt nachwirkt, für viele heute kaum bemerkbar: Plattenfirmen machten mit CD-Verkäufen so viel Profit, wie nie zuvor. Verdienten sich dumm und dämlich, da die Kaufpreise deutlich über denen von LPs lagen, die Margen für Künstler aber nicht entsprechend angehoben wurden – abgesehen von Multi-Millionen-Dollar-Deals für Madonna oder Aerosmith, deren Originalverträge mit Columbia Records gar nicht vorsahen, dass die Band so lange später noch von Relevanz wäre. Außer denen liefen, was in der Industrie viele zu verblüffen schien, guter alter Hardrock sehr gut, ebenso Heavy Metal oder Guns N’Roses. Das war manchen Plattenfirmen ein bisschen peinlich, führte aber dazu, dass es unterm Strich mehr Promo-Aktivitäten, auch Geld hierfür gab, was wiederum dazu führte, dass die von Fanzines zu Zeitschriften gereiften Macher mit »Produkten« überhäuft wurden, parallel mit Trips zu Interviews nach Rio, für jede zweitklassige Band – aus der mal was werden konnte – Interviews und das ganze Programm in London, München, Kopenhagen. Keiner begriff, wer Millionenseller werden konnte, also setzten die Firmen auf (fast) jeden mit Gitarre und Haaren. Das Internet – ab 1995 auch für Nichtprogrammiere leicht zu erkunden — erschien denen in ihrem Goldrausch wie so Geek-Ding im Stil von CB-Funk. MP3 nahmen als erstes die wahr – HipHopper –, die schneller mehr rausbringen wollten, als es den Firmen, high mit Kies, klar war. Mit Napster kam dann 1999 das bittere Erwachen, keiner der Majors reagierte … passend. Und ein Hardwarehersteller lieferte mit iTunes das nächste funktionierende Geschäftsmodell, an dem Spotify ein paar Jahre nagte, bis Apple mit Downloads weniger Gewinn machte als die alten kleingeschrumpften Plattenfirmen mit dem – gourmet-mäßig – vertriebenen Langspielplatten. Verrückte Welt. Nichts bleibt, wie es war. Die Musik beeinflusst das in dem Sinn, dass eine LP anders gewertschätzt wurde, auch doller, als einzelne Hits, die halt so mitlaufen, beim Jogging. Nett bei diesen Krisen des Rockbusiness: Wer schnell reich werden will, mit Stretchlimousine zum Videodreh, entscheidet sich heute vielleicht für eine andere Karriere. Für die Musik ist das nicht schlecht. 

Was braucht es, um wirklich in ein Gespräch mit einer Musikerin oder einen Musiker zu kommen? Also eine Situation, die deinen vorbereiteten Fragenkatalog komplett vergessen lässt?

Einen Fragenkatalog dabei zu haben, ist generell vorteilhaft; also nicht ein- und denselben für jedes Interview, sondern einen sorgfältig vorbereiteten. Das gefällt Künstler:innen, die ja ihr Ding auch nicht nebenbei oder über Nacht entwickelt haben. Respekt. Genauso kann man seine Fragen aber auch sausen lassen, wenn nach einleitendem Chitchat ganz andere Themen auf dem Tisch landen. Immer sehr aufregend. Man hat eine vage Idee, was man will, das Gegenüber steigt vielleicht auf anders viel besser ein, und man muss sofort – meistens nach Übersetzung im Kopf, Übertragen des Gesagten, aber auch der Stimmung – umschalten. Nicht hart, eher firm im Auge behalten, dass man was Brauchbares aufs Band kriegt. Das klappt mal, indem man das Steuer dem Musiker überlässt – Robert Fripp von King Crimson war solch ein Fall – oder indem man den Drummer – Cozy Powell – ein bisschen zurechtstutzt. Sehr spannend, auch lustig – wie bei den Chili Peppers; oder ambivalent wie bei Pearl Jams erstem Interview in Europa.

Hätte dir dein Verleger noch 100 Buchseiten mehr zur Verfügung gestellt, welche Gespräche hätten wir noch lesen können?

Oh, nur 100 mehr? Im Ernst, die Balance von »Talk on the Wild Side« ist so ziemlich gelungen. Einige Größen, ein paar Hintergrundleute, nicht ausschließlich Metals. Interessant fand ich persönlich auch, Konstantin Wecker – über die Stille in der Musik, genauso Jah Wobble über die Pausen von Thelonius Monk – oder was und wie Aerosmith – erste große Liebe – sich präsentierten; oder auch Guns N’Roses – eins von drei Interviews, das es in Deutschland nach Use Your Illusion gab. Diese Bands finden inzwischen viele eher super peinlich … und überhaupt sind ja auch gerade die Treffen spannend, wo eine Band knapp davor war, den Durchbruch zu schaffen. So gesehen, dachte ich manchmal, waren D:A:D – vor Major-Deal und, ernüchtert, direkt danach – spannend, aber auch Blur oder Sepultura bei Rock in Rio. Und in anderen Musikstilen Bo Diddley und Pop Staples, auch Soul II Soul … interessant eigentlich auch gewisse Macher von MTV: der Producer von Unplugged, der von 120 Minutes. Das alles wäre fürs erste Buch aber vermutlich zu sehr so rübergekommen wie ein Gemischtwarenladen – für Hinz und Kunz etwas, für keinen wirklich genug. Wir wollten nicht nur das eine in vielen Variationen bringen, aber eben auch nicht dermaßen viel Disparates, dass man gar nicht mehr weiß, für wen das sein soll. »Talk…« ist jetzt, so wie es ist, eine ziemlich geile Show über die letzte Dekade eines Jahrhunderts, in der eben viel ging, was bis heute nachhallt.

 

Matthias Penzel liest las am 21. Oktober im Rahmen des Lesefestivals »Open Books« der Buchmesse im Frankfurter Kunstverein aus »Talk on the Wild Side«. Moderiert wird wurde die Veranstaltung von Suse Michel, Drummerin und Sängerin von The Slags.

 

 

Zum Buch

Pressereaktionen zum Buch (wird fortgesetzt):

»Penzel gehört zu den wenigen hiesigen Rockjournalisten, die einen eigenen Stil kultiviert haben. Zudem erzählt jeder selektierte Text eine kleine Geschichte für sich und funktioniert somit […] auch in der Zeitkapsel.« Matthias Mader, Rock Hard 

Fotos/Abbildungen: Oben (privat), Mitte (Atco/ Teldec), Unten (Archiv Penzel)

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