Drei Fragen an Stefan Thoben zu »Ein Kessel B. Ein Sommer auf Bitterfelder Wegen«
Drei Jahre nach seiner Reise durch das Ruhrgebiet, an deren Ende die Veröffentlichung des vielbeachteten Buches »Ein Traum in bunt« und die Nominierung für den Literaturpreis Ruhr (Shortlist) stand, war Stefan Thoben wieder mit seinem silbernen Bianchi-Rennrad, einer langen vorab durchgeackerten Leseliste und viel Neugierde in einer ihm bis dahin unbekannten Region unterwegs, die – genauso wie das Ruhrgebiet – von einem fast unvorstellbaren Strukturwandel geprägt ist. Herausgekommen ist das Buch »Ein Kessel B.«, welches von der Kunststiftung Sachsen-Anhalt unterstützt wurde.
Das Klischee über Bitterfeld lautet: »Verseuchte Umwelt, Überalterung und AfD-affin«. Wie sieht’s nun aber wirklich dort aus?
In einem Interview wurde ich jüngst gefragt: »Und wie sind die Bitterfelder nun?« Es gibt auf diese Fragen keine knackigen Antworten, ohne wiederum neue Klischees zu produzieren. Die wundersam zurückgekehrte Natur und das viele Grün werden sonst auch zu abgedroschenen Phrasen (oder zu »blühenden Landschaften« verklärt); das Ruhrgebiet kann ein Lied davon singen. Mein Buch liefert auf 240 Seiten vielfältige Eindrücke vom Leben in Bitterfeld-Wolfen, allerdings ohne jeden Absolutheitsanspruch. Städte sind ja nicht statisch, sondern permanent im Wandel. Wichtig war es mir, mehrere Wochen am Stück in Bitterfeld-Wolfen zu verbringen, um ein Gespür für die Stadt, den Strukturwandel und die Menschen zu bekommen. Was ich mit Bestimmtheit sagen kann: Ich habe mich sehr wohl und willkommen gefühlt!
Mit Bitterfeld-Wolfen verbindet dich ja eine ganz persönliche Geschichte, die durchaus als Eintrittskarte für deine Begegnungen und Klammer für das Buch bezeichnet werden können.
An meiner Grundschule haben wir 1991 mit der Oldenburger Nordwest-Zeitung Spenden für umweltgeschädigte Kinder aus Bitterfeld gesammelt. Als ich damals mit neun Jahren die apokalyptischen Bilder aus Bitterfeld sah, war ich vollkommen verständnislos, wie man in so einer Stadt leben kann, vor allem als Kind. Seitdem habe ich mich immer wieder gefragt, was aus den Kindern geworden ist, wie es ihnen geht und ob sie noch in Bitterfeld leben. Diese Nachforschungen sind im Buch dokumentiert, neben den Eindrücken meines Kennenlernens von Bitterfeld.
Apropos verseuchte Umwelt: Kürzlich habe ich eine alte Bitterfelder Punkband namens Ausschlag entdeckt. In einem Song von 1983/84 heißt es: »Bitterfeld, abgestellt/ Hautausschlag für kleines Geld/ Bitterfeld, tote Welt/ Frag mich, was euch hier gefällt/ Bitterfeld, abgezählt/ Wer hat all das Gift bestellt?« Der Giftcocktail in den Bitterfelder Böden wird noch viele zukünftige Generationen beschäftigen und dauerhaft immense Kosten verursachen. Trotzdem gibt es gute Gründe, wieso Menschen in Bitterfeld leben, und wieso ihnen das Leben dort auch gefällt. Da hat sich vieles gewandelt. 2016 wurde Bitterfeld im SPIEGEL als eine Stadt beschrieben, »wo der Frust wohnt«. Die lebens- und liebenswerten Aspekte einer Stadt werden bei solchen Pauschalurteilen gerne ausgeblendet. Fasziniert hat mich auch der schier unendliche Fundus an spannenden Geschichten, wie der legendäre Besuch von Hollywoodstar und Umweltaktivistin Jane Fonda am Silbersee. Da hat Bitterfeld-Wolfen ein riesiges Potenzial, das noch ausgeschöpft werden kann. Je mehr Zeit ich in Bitterfeld verbracht habe, desto bemerkenswerter fand ich es. Und meine Begeisterung hat mir sicher auch viele Türen geöffnet.
Gab es bei deiner Herangehensweise Unterschiede zu deiner Arbeit am Ruhrgebietsbuch »Ein Traum in bunt«?
Mich interessieren die unterschiedlichen Schichten der Vergangenheit und wie diese die Gegenwart prägen, was ich mit meinen Fotos und Texten herausarbeiten möchte. Im Ruhrgebiet sind viele dieser Spuren noch sichtbar und werden einem vielerorts wie auf dem Silbertablett serviert: Es gibt Industriekultur, Haldenlandschaften und die zugehörige Bergmannsfolklore, aber auch alte Bierreklamen oder Coca-Cola-Schilder aus den 70ern. In Bitterfeld hingegen wurde seit 1990 ganz viel abgerissen, rundumerneuert (Stichwort: Aufbau Ost) oder ist unsichtbar geworden wie die ausgekohlten Braunkohletagebaue, die jetzt Seenlandschaften sind. Auch die sozialistischen Parolen, die früher im Stadtbild allgegenwärtig waren, sind verschwunden. Ich war deshalb auf Literatur, historische Quellen und die Erinnerung der Menschen angewiesen, um den radikalen Wandel, den die Region seit 1990 durchgemacht hat, für mich und die Leserschaft erfahrbar zu machen. Das hat mir einen unvergesslichen Sommer beschert. Clemens Meyer sagte 2019 in einem Stern-Interview: »Ich bin ein echter Bitterfeld-Fan. Das glaubt mir immer keine Sau, wenn ich sage, dass ich da schon Urlaub gemacht habe.« Ich werde ihn mal fragen, ob er einen Bitterfeld-Fanclub mit mir gründet.
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Fotos: Thoben, Autorenfoto: Privat