Es sind noch genügend Waffen irgendwo in Nordirland vergraben

Drei Fragen an Ralf Sotscheck zu »Nordirland. Zwischen Bloody Sunday und Brexit. Reportagen«

Ralf Sotscheck lässt sich 1976 als Aushilfslehrer in Belfast nieder, allein in diesem Jahr fallen 300 Menschen dem nordirischen Konflikt zum Opfer. In außergewöhnlichen Reportagen erzählt der Irland-Korrespondent der taz die blutige Geschichte der »Troubles«, an denen auch sein Schwiegervater teilnahm. Und er trifft ehemalige Feinde, die sich jetzt um Verständigung und Versöhnung bemühen. Doch selbst nach dem Friedensabkommen von 1998 kommt das Land nicht zur Ruhe. Der Brexit birgt neue soziale und wirtschaftliche Herausforderungen, denen sich Sotschecks Protagonisten auf vielfältige Weise stellen.

In deinen Reportagen berichtest du von Menschen, die einst Todfeinde waren und jetzt in relativ friedlicher Koexistenz in Nordirland leben, teilweise sogar in gemeinsamen Projekten arbeiten. Diese Entwicklung ist mitunter staunenswert – woher nehmen die Menschen ihre Motivation?

»Wenn man seinen politischen Gegner nicht mehr dämonisiert, sondern in ihm einen Menschen sieht, bringt man ihn nicht um«, sagt Billy Mitchell. Er war Mitglied der protestantischen Ulster Volunteer Force (UVF). 1976 wurde er wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Er kam ins Gefangenenlager Long Kesh bei Belfast. Ebenfalls 1976 erschoss Tommy McKearney einen Briefträger in Belfast, weil er einem Regiment der britischen Armee als Reservist angehörte. Auch er bekam lebenslänglich und kam nach Long Kesh. Getroffen haben sich McKearney und Mitchell in Long Kesh nie. Sie waren in verschiedenen Flügeln des Lagers untergebracht, denn sie hätten sich gegenseitig umgebracht, wenn sie sich begegnet wären. Im Gefängnis kam McKearney zu der Überzeugung, dass Gewalt nicht dazu taugt, ein vereinigtes Irland zu erkämpfen. Mitchell war zu der Erkenntnis, dass man mit Gewalt nichts erreichen kann, bereits Mitte der Achtzigerjahre gelangt. Die erste Begegnung der beiden fand im Maghaberry-Gefängnis statt, in das beide verlegt worden waren, nachdem sie sich von ihren Organisationen losgesagt hatten. 1988 riefen sie ein Projekt ins Leben, das noch drei Jahre zuvor unvorstellbar gewesen wäre: die Zeitschrift The Other View, die von Republikanern, die für ein vereintes Irland sind, und Loyalisten, die loyal zur britischen Krone stehen, gemeinsam herausgegeben wurde. Doch Menschen wie Tommy McKearney und Billy Mitchell sind Ausnahmen in Nordirland.

Was muss deiner Meinung nach hinsichtlich der aktuellen Brexit-Situation geschehen, damit es gute Chancen auf einen dauerhaften Frieden in Nordirland gibt?

Die Democratic Unionist Party (DUP) brauchte einen Erfolg bei den Lokalwahlen im Mai, um Druck auf den britischen Premier Rishi Sunak ausüben zu können, damit er den Windsor-Rahmenplan, den er mit Brüssel Ende Februar abgeschlossen hat, nachbessert. Denn dieser Plan sieht den Verbleib Nordirlands im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion vor. Doch die Wahlen brachten der DUP keinen Erfolg. Mit einem Ende des DUP-Boykotts ist deshalb vorerst nicht zu rechnen. Einige Aspekte des Belfaster Abkommens von 1998 (»Karfreitagsabkommen«) bedürfen einer Überarbeitung, damit die Parteien, die keiner Konfliktseite angehören, mehr Einfluss bekommen. Die politische Landschaft und die Gesellschaft haben sich in den vergangenen 25 Jahren verändert – die im Abkommen festgelegten Regeln hingegen nicht. Es ist aber zu früh, im Parlament eine normale Mehrheitsregel einzuführen, solange es keine Annäherung beider Seiten gibt, denn unter der Diktatur der unionistischen Mehrheit hat Nordirland ein Dreivierteljahrhundert gelitten, was schließlich zum bewaffneten Konflikt führte. So verlockend es klingt, den Spieß umzudrehen und die Regierung ohne DUP-Beteiligung einzusetzen, so töricht wäre das, denn es sind noch genügend Waffen irgendwo in Nordirland vergraben.

Und noch eine touristische Frage: Was wären deine Tipps für ein verlängertes Wochenende in Belfast?

Eigentlich braucht man mehr Zeit als ein verlängertes Wochenende, um Belfast kennenzulernen. Ich habe anderthalb Jahre dort gelebt und entdecke bei meinen regelmäßigen Besuchen immer wieder Neues. Ein Muss sind die Wandgemälde, die weit mehr als »Graffiti« sind. Es sind politische Kommentare, die bei Bedarf auch übermalt werden, wenn etwas anderes wichtiger erscheint. Die »Black Taxis«, die Linientaxis, sind in den katholischen und protestantischen Vierteln, wo die öffentlichen Busse in der heißen Phase des Konflikts ihren Dienst eingestellt hatten, das alternative und billigere Verkehrsmittel. Viele bieten Touren zu den Wandgemälden und den Schauplätzen des Konflikts an.

Und klar, die Titanic gehört auch zu Belfast. Das Besucherzentrum, in dessen Mittelpunkt die »Titanic« steht, bringt Touristen den einst blühenden Schiffbau nahe. Das Trockendock mit Pumpenhaus, wo die »Unsinkbare« gebaut wurde, und die Rampe, wo sie vom Stapel lief, sind in das Gesamtprojekt integriert.

In der Innenstadt lohnt es sich, die sogenannten »Entries« näher zu inspizieren. Die schmalen Gassen verbinden zwei Hauptstraßen und bergen so manche Überraschung, wie kleine Läden und Kneipen. Und abends sollte man ins Cathedral Quarter gehen – Restaurants, Musik und Pubs bis zum Abwinken.

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Pressereaktionen (wird fortgesetzt):

Besprechung auf »Kultur und Politik«

»(… ) Der Autor wohnt seit 1985 in Dublin und kennt sein Metier (…) Das macht die Reportagen unmittelbar und lebendig.« ekz-Bibliotheksdienst

Buchvorstellung mit Ralf Sotscheck und Michael Ringel, taz Studio, Leipziger Buchmesse 2023

Fotos: Derek Speirs

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